Bewegung macht schlau.
Zappeln, kippeln – wenn Kinder sich beim Lernen bewegen, machen sie intuitiv alles richtig. Warum Stillsitzen Unsinn ist, erklärt Bewegungsexperte Dr. Dieter Breithecker.
Zappeln, kippeln – wenn Kinder sich beim Lernen bewegen, machen sie intuitiv alles richtig. Warum Stillsitzen Unsinn ist, erklärt Bewegungsexperte Dr. Dieter Breithecker.
Wie konzentriertes Lernen aussieht, haben wir alle vor Augen. Bewegung passt da nicht ins Bild. Denn wenn Schule eines gelehrt hat, dann das: Wer kippelt, passt nicht auf. Wer wirklich bei der Sache ist, sitzt still.
„Das ist Unsinn. Regelmäßige Bewegung ist die Voraussetzung dafür, dass das Gehirn nicht auf Standby läuft, sondern hellwach ist und somit Informationen besser und nachhaltiger verarbeitet“, sagt Dr. Dieter Breithecker, Sport- und Bewegungswissenschaftler, der im In- und Ausland Schulen und Institutionen in Sachen Gesundheitsvorsorge berät.
Natürlich sollen nicht alle im Unterricht über Tische und Bänke gehen. Bewegung bedeutet erst mal nur, dass Muskeln aktiv sind. Und das sollten sie regelmäßig sein, auch wenn nur minimal und ohne dass es uns bewusst ist. Das ist fast immer der Fall – vorausgesetzt, dieses smarte Körperverhalten wird nicht von einem starren Stuhl ausgebremst.
Regelmäßige Bewegung ist die Voraussetzung dafür, dass das Gehirn nicht auf Standby läuft sondern hellwach ist.
Dr. Dieter Breithecker, Sport- und Bewegungswissenschaftler
Bewegung – Nahrung fürs Gehirn
Probieren Sie es aus. Stellen Sie sich hin und schließen Sie die Augen. Sie werden merken, dass Sie leicht um das Körperlot pendeln. Jetzt setzen Sie sich auf einen starren Stuhl und schließen wieder die Augen. Nichts. Die natürliche körperliche Dynamik ist blockiert. Für optimale Bedingungen beim Denken, Konzentrieren und Probleme lösen braucht es jedoch Muskeln, die was tun.
„Muskeln und ihre durch Bewegung ausgelösten Kontraktionen sorgen für eine erhöhte Sauerstoffversorgung und für die Ausschüttung wichtiger molekularer Botenstoffen, wie Proteine und Hormone. Diese Nahrungsmittel bewirken eine hohe Stimulation und bessere Funktionsfähigkeit des Gehirns“, sagt Breithecker. Bleibt diese Versorgung aus, obwohl der Kopf beim Lernen gerade besonders gefordert ist, reagiert der Körper automatisch richtig: Er initiiert Bewegung, um den Bedarf zu decken
Dieser liegt bei Kindern entwicklungsbedingt deutlich höher als bei Erwachsenen. Denn die sensomotorische Entwicklung in den ersten elf Lebensjahren wird vor allem über Tun angeregt – über Erkunden, Entdecken, Bewegen. Stillsitzen läuft diesem notwendigen Reifungsprozess diametral entgegen. Deshalb ist der Bewegungsbedarf in dieser Lebensphase besonders ausgeprägt. Grundschüler rutschen schon längst auf der Stuhlkante hin und her, bevor eine erwachsene Zuhörerschaft das erste Mal die Arme verschränkt und sich diskret nach hinten lehnt. Es ist gut erforscht, was Schule einem Grundschulkind abverlangen darf: es schafft keine fünf Minuten, absolut ruhig auf dem Stuhl zu sitzen. Bei Jugendlichen und Erwachsenen sollten es maximal 20 Minuten sein
Dabei sollten wir von Kindern lernen, statt sie zu bremsen denn Bewegung ist etwas, was Kinder intuitiv völlig richtig machen.
Dr. Dieter Breithecker, Sport- und Bewegungswissenschaftler
Besonders Kinder brauchen deshalb Stühle, die ihren gesunden Bewegungsdrang unterstützen: idealerweise mit einer dreidimensional beweglichen Sitzfläche. „So wird die intelligente Eigendynamik des Körpers aufrechterhalten, wie sie auch im Stehen herrscht. Dann halten Kinder auch gut 30 Minuten im Sitzen aus“, sagt Breithecker. Mithilfe seiner fachlichen Beratung brachte VS den ersten Schulstuhl mit dreidimensionaler Funktionalität auf den Markt. Der PantoMove wurde 2004 noch belächelt. 2007 gab es bereits die ersten Plagiate.
Dass die Sitzfläche die natürlichen intuitiven Positionswechsel eines Menschen nicht blockiert, sondern fördern sollte, ist heute Stand der Forschung. Denn diese natürlichen rhythmischen und je nach individuellem Bedarf ausgeprägten Verhaltensweisen vermeiden Fehlhaltungen.
Klassisches Beispiel: Ein Kind sitzt auf einem starren Stuhl, der nicht auf seine Größe eingestellt ist. Da die Sitzfläche nicht nach vorne mitgeht, ist das Kind gezwungen, den Rücken rund zu machen, um sich übers Heft zu beugen. Dabei wird der Bauchraum zusammengedrückt, die Funktionsfähigkeit der inneren Organe wird durch die Verengung beeinträchtigt. Kippelt das Kind mit dem Stuhl nach vorne, gleicht es diese erzwungene Fehlhaltung aus. Kippelt das Kind nach hinten, kann sich der Bauchraum wieder ausdehnen. Trotzdem setzt es dafür häufig einen Rüffel. „Da kommt die Unkenntnis der Erwachsenen ins Spiel. Dabei sollten wir von Kindern lernen, statt sie zu bremsen. Denn Bewegung ist etwas, was Kinder intuitiv völlig richtig machen“, sagt Breithecker. Trotz all dieser Erkenntnisse besteht bei der Ausstattung der Schulen großer Nachholbedarf. Schätzungsweise nur ein Drittel der Schülerschaft sitzt auf Stühlen, die dem Becken in jede Richtung Spielraum bieten und höhenverstellbar sind. Etwa 60 Prozent sitzen wenigstens an einer größenangepassten Stuhl-Tisch-Kombination mit unbeweglicher Sitzfläche.
Das Sitzverhalten von Kindern in Zahlen
Prozent ihrer Wachzeit verbringen Kinder im Sitzen
Prozent sitzen in der Schule optimal auf beweglichen Stühlen
Prozent sitzen wenigstens an einer größenangepassten Stuhl-Tisch-Kombination
Vom Spielkind zum Sitzkind
Worauf Schulen bei Möbeln setzen, wird umso wichtiger, je weniger Kinder sich den Tag über bewegen. Entscheidender Faktor ist das Medienverhalten. Denn smarte Technik von Handy bis Tablet wird vor allem im Sitzen bedient.
Schule, Hausaufgaben, Fernsehen, Bildschirmzeit – gut zehn Stunden etwa verbringt ein Kind heute durchschnittlich im Sitzen und unterscheidet sich damit nicht mehr wesentlich von einem Erwachsenen. Fachleute schätzen, dass sich das Sitzverhalten seit der Pandemie um zwei Stunden verlängert hat. Amerikanische Studien zeigten bereits 2016, dass Kinder 75 Prozent ihrer Wachzeit im Sitzen verbringen. Das wären bei acht, neun Stunden Schlaf etwa elf Stunden – ein Ergebnis, das sich durchaus auf hiesige Verhältnisse übertragen lässt.
Wie bieten Räume mehr Raum für Bewegung?
Schule ist gefordert, Kinder auf Trab zu halten. Durch pädagogische Konzepte und Räume, die zu Bewegung verführen. Erprobt sind Stellwände oder Magnettafeln, zu denen Kinder hingehen, Ideen anheften und sie im Anschluss im Stehen diskutieren. Mehr Stehpulte im Klassenzimmer ermöglichen Kindern, ihre Aufgaben spontan im Stehen zu erledigen.
Jüngere Kinder lernen gerne am Boden, denn dort können sie kontinuierlich ihre Körperhaltung wechseln, mal knien, mal hocken. Bodenkissen und niedrige Tische unterstützen dieses sogenannte bodennahe Lernen. Neurowissenschaftliche Studien belegen, dass eine Raumgestaltung, die Bewegung zulässt, einen starken Effekt auf Wohlbefinden und Lernleistung hat. Nur ist es nicht damit getan, mit der Klasse „Hampelmann“ zu springen, sobald es zu unruhig wird. Das wäre sinnvoll, wenn alle Kinder zur selben Zeit in derselben Intensität Bewegung bräuchten. Das tun sie natürlich nicht. Jedes Kind ist anders und hat ein individuelles Bewegungsbedürfnis.
Wir müssen den Unterricht und die Einrichtung so verändern dass Bewegung Teil des Lernens ist.
Dr. Dieter Breithecker, Sport- und Bewegungswissenschaftler
„Wir müssen den Unterricht und die Einrichtung so verändern, dass Bewegung Teil des Lernens ist. Und jedes Kind sich für seinen Lernbedarf und seine Lernorganisation den besten Lernplatz aussuchen kann. Das erfordert ein Umdenken von allen,“ sagt Breithecker. Die Praxis zeigt, wie gut Kinder Lernen und Bewegung verbinden, wenn sie frei wählen dürfen. Steht ihnen etwa ein Indoor-Trampolin im Klassenraum zur Verfügung, steigen sie mit ihrem Schulbuch drauf und lesen in leichtem Wippen. Das ist anfangs vielleicht gewöhnungsbedürftig. Aber es ist eine von vielen Möglichkeiten im Unterricht, die gesunde Bewegungsunruhe beim Lernen zu kanalisieren, bevor Zappeligkeit tatsächlich beim Lernen stört.
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