„Wir geben wenig vor. Auch keinen Lehrplan."
Wer junge Leute ausbildet, gestaltet Bildung ein gutes Stück weit mit. Christoph Kunz geht als Ausbildungsleiter von Siemens Energy dabei radikal neue Wege.
Wer junge Leute ausbildet, gestaltet Bildung ein gutes Stück weit mit. Christoph Kunz geht als Ausbildungsleiter von Siemens Energy dabei radikal neue Wege.
VS: Herr Kunz, Sie verantworten bei Siemens Energy die Ausbildung von 2500 jungen Leuten. Haben die nach der Schule überhaupt noch Lust zu lernen?
Nein. Die sind mit dem Thema Lernen nach der Schule erst mal durch. Es braucht eine andere Pädagogik, um junge Leute abzuholen. Wir haben deshalb erst einmal versucht zu verstehen, wie die Generation Z tickt. Sie wollen Sinnstiftendes tun, ernst genommen werden. Flexibilität inspiriert sie, knapp 80 Prozent lernen lieber im Team als allein. Wir passen Strukturen und Prozesse entsprechend an, auch um uns als Ausbilder attraktiv zu machen. Lernunlust, wie sie Schule produziert, kann sich niemand leisten. Wir bereiten unsere Auszubildende auf New Work vor und damit auf lebenslanges Lernen.
VS: Worauf kommt es Ihnen bei einer zeitgemäßen (Aus-)Bildung an?
Es geht heute nicht mehr um statisches Wissen. Die Technologiezyklen werden immer kürzer. Wir müssen Probleme ad hoc lösen können. Über welche Methoden komme ich zum nötigen Wissen? Wie eigne ich mir das nötige Wissen schnell an? Diese Fragen prägen den Alltag im New Work. „Lernen lernen“ ist deshalb ein Thema, das wir mit allen Auszubildenden bearbeiten. Die meisten hören zum ersten Mal davon, welcher Lerntyp sie sind oder wie sie 18 Seiten Informationen am besten strukturieren. Sinnvoller wäre es natürlich, ihnen diese methodischen Werkzeuge bereits in der Schule an die Hand zu geben. Es braucht zukünftig Kompetenzen wie Flexibilität, Teamfähigkeit, Resilienz, um gut und mit Spaß zu arbeiten.
Radikal neu ist, dass wir unseren Auszubildenden viel Flexibilität bei Zeit und Ort zugestehen.
Christoph Kunz, Ausbildungsleiter bei Siemens Energy
VS: Sie starten im Sommer Ihr neues Ausbildungsprogramm SEED in Berlin. Nächstes Jahr rollen sie das Konzept bundesweit aus. Was daran ist anders?
Radikal neu ist, dass wir unseren Auszubildenden viel Flexibilität bei Zeit und Ort zugestehen. Wenn sie entscheiden, ihr Projekt für zwei Stunden bei Starbucks zu besprechen, vertrauen wir ihnen. Diese Flexibilität führt nach den Erfahrungen unserer Pilotphase dazu, dass sie sich ganz anders mit ihrer Aufgabe identifizieren. Wir geben wenig vor. Auch keinen Lehrplan. Den erarbeiten sich unsere Auszubildenden selbst, nachdem sie sich in den ersten Wochen mit den Inhalten ihres zukünftigen Berufs beschäftigt haben. So lernen sie, warum sie bei uns etwas lernen müssen. Gelernt und gearbeitet wird bei uns in „Dreamteams“ und das interdisziplinär, so dass der IT-ler sich mit der Mechatronikerin austauschen kann. Üblicherweise bilden Betriebe getrennt nach Berufen aus. Woran merken wir, dass wir auf unserem Weg viel bewegen? Normalerweise warten Auszubildende darauf, dass sie um 15 Uhr heimgehen dürfen. Unsere Teams fragen, ob sie eine Stunde länger bleiben können.
VS: Sie locken auf Ihrer Website mit neuen Lehrmethoden. Wie sieht das in der Praxis aus, gerade im Hinblick auf digitale Möglichkeiten?
Natürlich nutzen wir digitale Optionen. Nur lassen wir unsere Azubis keine gekauften Trainings-Contents durchklicken. Wir setzen auf netzwerkbasiertes Lernen. Das heißt, wie nutzen einen Methodenmix von Flipped Classroom, Peer Education und viel projektbasiertem Lernen. Das sind Methoden, durch die junge Menschen mehr Verantwortung für ihr Lernen übernehmen können und müssen. Uns geht es vor allem anderen um Interaktion auf Augenhöhe, untereinander und mit den Ausbildungscoaches, die Lernprozesse begleiten, statt zu führen. Das bringt die beste Potenzialentfaltung, merken wir. Und den meisten Spaß. Denn die jungen Leute lernen nicht nur für sich, sondern auch für andere und bekommen dadurch wieder Lust darauf.
VS: Es muss Gründe geben, warum junge Leute sich zum Lernen und Arbeiten mit dem Laptop gerne zu Starbucks setzen. Wie sieht bei Ihnen eine gute Lernumgebung aus?
Wir sind gerade dabei, Erkenntnisse aus amerikanischen Studien zu „Atmospheric Design“ umzusetzen und unsere Räumlichkeiten entsprechend umzugestalten. Die Lernumgebung macht demnach 20 bis 30 Prozent des Lernerfolgs aus. Wenn man einen solchen Stellhebel für effizienteres Lernen erkennt, muss man natürlich damit arbeiten. Von starren und hierarchisch frontal ausgelegten Raumsystemen gehen wir völlig weg. Wir setzten auf offene Räume und flexible Möblierung. Entscheidend war, die Raum-DNA festzulegen. Nutzt man sie für Teamentwicklung oder Kreativität? Dient sie hoher Konzentration oder Sicherheit für Prüfungsräume? Die spezifischen Raum-Eigenschaften setzen wir mithilfe von Fachleuten um. Geht es um Kreativität, finden unsere Leute große beschreibbare Flächen an den Wänden, flexible Möbel, viel Grün, viel Licht. Wir probieren aus. Nur so kann man lernen.
Was sollen ihre Azubis am Ende aus ihrer Lehrzeit mitnehmen?
Sie sollen mehr Skills beherrschen, als per IHK-Verordnung gefordert sind. Mir ist wichtig, dass sie über Individual-, Sozial-, und Methodenkompetenzen verfügen, die im Beruf oft wichtiger sind als Fachkompetenz. Sie sollen gelernt haben, dass sie Fehler machen können. Und sie sollen sagen können, dass sie eine coole Zeit in der Ausbildung hatten.
Unser Team berät Sie gerne bei allen Fragen.
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