Digital Lernen – Wo bleiben die großen Sprünge?

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Digital Lernen – Wo bleiben die großen Sprünge?

Ein Vater zeichnet mit seinem Kind auf ein interaktives Display von VS

Digital lernen wo bleiben die großen Sprünge?

Neue Technik erfordert neue Methoden, sagt Jörn Muuß-Merholz. Der Medienexperte zeigt, wie innovativ lernen laufen könnte – und warum Schulen sich damit schwertun.

Schwarz-Weiß-Bild von Schülern an einzelnen Tischen und Stühlen aus Stahlrohr

Wenn wir von Digitalisierung in den Schulen reden, meinen wir häufig nur alten Wein in neuen Schläuchen. Die technischen Fortschritte sind zwar deutlich zu sehen. Für eine tatsächliche Modernisierung aber reicht es nicht, mit neuen Medien alte Pädagogik zu optimieren. Wie können große Sprünge aussehen? Und was verhindert sie?

Als Gutenberg den modernen Buchdruck erfand, verwendete er für seine Bücher nicht etwa eine Typographie, die wir heute als Druckschrift erkennen würden. Er druckte seine Buchstaben in Schreibschrift – und kopierte das Altbekannte.

Es brauchte eine Generation von Druckmeistern nach Gutenberg, um die Möglichkeiten und Vorteile der Gestaltung in Form von unverbundenen Druckbuchstaben zu entdecken und zu erproben. Auch beim Inhalt veränderte sich zunächst nicht viel. 80 Prozent der gedruckten Bücher, die in den ersten 50 Jahren veröffentlicht wurden, behielten Latein als Sprache bei. Die Gutenberg-Expertin Elizabeth Eisenstein geht davon aus, dass es ein volles Jahrhundert dauerte, bis die ersten Umrisse einer neuen Welt zu erkennen waren. Diese Zeit haben wir in Schulen nicht.

Wie können große Sprünge aussehen?
Und was verhindert sie?

Digitale Revolution kommt nicht über Nacht

Die Geschichte des Buchdrucks zeigt, dass große Umbrüche nicht schlagartig auftreten, auch wenn wir sie später als Revolution einordnen. Im Gegenteil: Nach der Erfindung einer neuen Technologie nutzen wir diese zunächst vor allem, um bekannte Formen und Inhalte zu reproduzieren.

Ein Mädchen schaut auf ein Tablet

Heute sind es die Schulen, die mit den digitalen Medien einen großen Umbruch erleben. Und auch da erleben wir keine Revolution über Nacht. Stattdessen wird digital optimiert, was in der analogen Welt funktioniert: Aus Schulbüchern werden elektronische Bücher, aus dem grün-weißen Tafelbild werden bunte Tafelbilder auf Smartboards, aus Karteikarten für Vokabeln werden Vokabeltrainer-Apps. 

Wir befinden uns momentan in den Schulen in Sachen Digitalisierung dort, wo Gutenberg für seine Bibeln noch die Schreibschrift kopierte.

Schule digital weiterentwickeln

In Diskussionen über den Wandel von Unterricht und Lernen durch den Einsatz digitaler Medien wird gerne das SAMR-Modell von Puentedura herangezogen. „SAMR“ setzt sich aus den ersten Buchstaben von vier Nutzungsstufen zusammen:

  • Substitution (Ersetzung): Medien kommen als Werkzeug zum Einsatz, wobei das analoge Medium einfach durch das digitale ersetzt wird.

  • Augmentation (Erweiterung): Arbeitsaufträge werden durch neue Medien erweitert, wodurch zusätzliche Möglichkeiten entstehen.

  • Modifikation (Veränderung): Neue Medien ermöglichen eine veränderte Gestaltung von Aufgaben.

  • Redefinition (Neudefinition): Durch den Einsatz neuer Medien werden Aufgaben ermöglicht, die vorher unvorstellbar waren.

Drei Kinder zeichnen geometrische Formen an einem interaktiven Whiteboard von VS

Die großen Denkfehler der Digitalisierung

Das SAMR-Modell wirkt plausibel, baut aber auf Grundannahmen auf, die selten diskutiert werden und unter Umständen fatale Folgen haben.

SAMR kann helfen, unterschiedliche Nutzungsarten zu beschreiben. Doch bei der Schulentwicklung oder in gesellschaftlichen Debatten kann es dazu beitragen, dass
1. notwendige Klärungsprozesse zu Zielsetzungen ausbleiben und
2. eine tatsächliche Veränderung nur langsam oder gar nicht stattfindet.

Ein Junge schreibt auf ein interaktives Whiteboard.

Große Sprünge statt kleiner Schritte

Die untenstehende Tabelle zeigt Beispiele für kleine Schritte und mögliche große Sprünge beim Einsatz digitaler Medien im Schulunterricht. Die linke Spalte zeigt typische Beispiele in einer analog geprägten Schule. Die rechte Spalte zeigt, wie Unterricht mit digitalen Medien auch denkbar wäre. Die Beispiele stammen aus dem Buch „Digitale Schule. Was heute schon im Unterricht geht“ und wurden bereits 2015 im Unterricht dokumentiert. Eine Ausnahme bildet das letzte Beispiel. Es stammt aus dem Projekt „Schulen im Weltraum“, vorgestellt 2019 im Podcast „Jöran ruft an“ mit Jochen Leeder (joeran.de/jra097- schule-im-weltraum/).

Neue Medien, alte Schule

Neue Medien, neue Schule

Beim Sprachenlernen helfen Apps bei Vokabeltraining und Grammatikübungen.

Sprachenlernen findet als gemeinsames Projekt von Klassen unterschiedlicher Länder statt, die über das Internet zusammenarbeiten.

Die Klasse prüft ihr Wissen mit digitalen Quizübungen à la „Wer wird Millionär“. Bei falschen Antworten gibt es Feedback und weiterführende Hilfestellung. 

Die Klasse prüft ihr Wissen, indem sie selbst digitale Quizübungen à la „Wer wird Millionär“ entwickelt. Sie konstruieren plausible (!) falsche Antworten und reflektieren ihr Wissen anhand der Abstufung in Schwierigkeitsgrade.

Mitschriften werden digital und individuell erstellt. Sie können mit Fotos, Grafiken, Links oder Videos erweitert werden.

Mitschriften werden digital und kollaborativ angefertigt, z. B. per Wiki. Sie müssen dafür Wissen abgleichen, aushandeln. Multimediale Erweiterungen sind möglich, Hyperlink-Strukturen unabdingbar.

Die Klasse lernt ein neues Land durch Videos oder VR-Brillen kennen. Individuelle Interessen können durch Nutzung der Medien vertieft werden.

Die Klasse lernt ein neues Land durch Mystery Skype kennen. Zwei Klassen unterschiedlicher Länder müssen im Skype-Call etwas über den jeweils anderen Ort herausfinden. Individuelle Interessen werden in Einzelgesprächen miteinander vertieft. 

Ein naturwissenschaftliches Experiment wird per Computersimulation durchgeführt. So können es alle individuell erproben.

Ein naturwissenschaftliches Experiment wird parallel in der Schule, der Internationalen Raumstation ISS und Schulen anderer Länder durchgeführt. Die Ergebnisse werden geteilt und verglichen. 

Bereiten die Praxisbeispiele links tatsächlich einen grundlegenden Wandel vor und führen Schritt für Schritt hin zu den Ideen rechts? Oder ist das Gegenteil der Fall und die bestehende Praxis wird mit digitalen Mitteln noch verfestigt, sodass grundsätzliche Veränderungen verhindert werden?

Klassenzimmer mit den dreieckigen VS-Tischen TriTable

Einen Weg durchs Neuland (er-)finden

Vielleicht können wir nicht anders, als zunächst uns vertraute Formen in die neue Medienwelt zu transferieren. Gleichzeitig müssen wir auch große Sprünge erproben und diskutieren. Ansonsten laufen wir Gefahr, ein Schulmodell des 20. Jahrhunderts mit Wurzeln im 19. Jahrhundert mit den Medien des 21. Jahrhundert zu verfestigen.

Zwei Kinder lernen gemeinsam auf einem Tablet

Wir können uns nicht leisten abzuwarten, bis ein Erziehungswissenschaftler, eine Kultusministerin, ein Schulverlag oder ein Internetgigant das Patentrezept entwickelt haben wird, das dann nur noch an alle ausgerollt werden müsste. Tempo, Dynamik und Veränderungsdruck sind heute um ein Vielfaches größer als bei Gutenberg.

Dafür müssen wir die Fragen des digitalen Wandels mit grundlegenden Fragen des Wandels in der Bildung verknüpfen. Notwendig ist eine Verständigung über die grundlegenden Ziele und Inhalte, die wir mit und in Schulen bearbeiten wollen. Es braucht Nordsterne, an denen wir unser Denken und Handeln ausrichten können.

Zwei Mädchen interagieren mit einem Tablet

 

Das macht den digitalen Wandel für Schulen doppelt schwierig. Wir lernen eine neue Welt kennen und stecken doch schon mittendrin. Wie wir gute Schule angesichts des digitalen Wandels und einer sich verändernden Gesellschaft gestalten können, das müssen wir ausprobieren, herausfinden und neuentwickeln – als einzelne Akteure, als professionelle Gemeinschaften und als Gesellschaft.

Zum Autor
Jöran Muuß-Merholz ist Diplom-Pädagoge mit Schwerpunkt auf Lernen und Lehren im digitalen Wandel und als Autor, Referent und Berater tätig. Seit 2009 betreibt er zudem eine Agentur, die sich vor allem mit dem Thema Open Educational Resources (OER) befasst.

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